Serbiens nationaler Kosovo-Mythos – Entstehung und politische Instrumentalisierung


Versucht man zu erklären, weshalb von serbischer Seite daran festgehalten wird, dass Kosovo auf immer serbisch bleiben müsse, dann wird stets auf die schicksalhafte Niederlage des serbischen Heeres gegen die Osmanen in der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 verwiesen. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass der serbische Kosovo-Mythos, wie so viele nationale Mythen, ein Kind späterer Jahrhunderte ist.

Kosovo

Am 15. Juni des Jahres 1389 (gemäss dem alten Julianischen Kalender am 28. Juni) war es auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) zur Entscheidungsschlacht zwischen dem osmanischen und dem serbischen Heer gekommen. Trotz grosser Tapferkeit war die durch Verrat in den eigenen Reihen noch beschleunigte Niederlage angesichts der zahlenmässigen Überlegenheit der Türken nicht aufzuhalten. Der serbische Fürst Lazar wurde gefangengenommen und mit einer grossen Schar seiner Krieger an der Totenbahre von Sultan Murad hingerichtet, der in der Schlacht von einem Serben getötet wurde. Damit war das Ende des glorreichen mittelalterlichen serbischen Staates gekommen, und die finstere Nacht der Türkenherrschaft brach herein. Seither gedenken die serbische Kirche und die ganze Nation alljährlich nicht nur des Fürsten Lazar und der mit ihm getöteten Serben, sondern «aller von 1389 an für den Glauben und das Vaterland ums Leben Gekommenen». Kosovo gilt in serbischer Sicht als Synonym für Heldentum und Opferbereitschaft.

Fakten und Legenden

So lautet die gängige Version der serbischen Kosovo-Tradition. Zu einem andern Befund gelangt indes, wer die dem Ereignis zeitlich am nächsten stehenden Quellen befragt, für die der Ausgang der Schlacht keineswegs so eindeutig war. Der bosnische König Tvrtko, der als Verbündeter Lazars an der Schlacht teilgenommen hatte, beanspruchte den Sieg sogar für die christliche Seite. Als unumstössliches Faktum scheint nur festzustehen, dass beide Heerführer, der türkische Sultan Murad und Fürst Lazar, in der Schlacht den Tod fanden. Das osmanische Heer rückte nach der Schlacht nicht weiter vor, sondern zog sich nach Edirne zurück. Zwar erklärte sich Lazars Witwe, Milica, 1390 zur Zahlung eines jährlichen Tributs an die Türken bereit; aber damit wechselte sie im Grunde nur den Oberherrn, denn Lazar hatte dem ungarischen König Tribut entrichtet. Bedrängt von zwei Grossmächten, den Osmanen im Süden und den Ungarn im Norden, blieb nur wenig Spielraum. Die Unabhängigkeit Serbiens endete jedoch erst 1459, also 70 Jahre nach der angeblichen Schicksalsschlacht, und unter Lazars Sohn Stefan erlebte das Land sogar eine letzte kulturelle Blüte. Serbien war aber auch vor der Schlacht von 1389 nicht mehr die weite Teile der Balkanhalbinsel beherrschende Grossmacht wie noch wenige Jahrzehnte zuvor unter Zar Dusan, sondern in zahlreiche kleine Herrschaften zerfallen.

Kult um Fürst Lazar

Ein Element des späteren Kosovo-Mythos entfaltete sich bald nach 1389: der Kult um den toten Fürsten. Entscheidendes Motiv dabei war, Lazar und seinen Sohn Stefan als Herrscher zu legitimieren und in die Tradition der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in Serbien herrschenden Dynastie der Nemanjiden zu stellen. Lazar Hrebeljanovic war schliesslich nur der Sohn eines Hofbeamten des Zaren Dusan, allerdings verheiratet mit einer entfernten Verwandten der Nemanjiden. Durch seinen Tod in der Schlacht, der als heilbringendes Martyrium für sein Volk und Land interpretiert wurde, hatte er sich Christus gegenüber als legitimer Herrscher erwiesen. Nachdem Stefan Lazarevic 1427, ohne Kinder zu hinterlassen, verstorben war, ging auch die Verbreitung des Lazar-Kultes zurück. Nur im Kloster Ravanica, Lazars eigener Stiftung, in der er auch seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, hielt man an ihm fest. Die Kosovo-Thematik wurde nun aber von der mündlichen Volksdichtung aufgegriffen, die in einer zunehmend analphabetischen Gesellschaft neben der Kirche zu einem wesentlichen Medium kollektiver Identitätsstiftung und historischer Erinnerung wurde. Je mehr die Erinnerung an die letzten Jahrzehnte der serbischen Unabhängigkeit verblasste, desto stärker wurde die Schlacht auf dem Amselfeld als Ende des serbischen Staates wahrgenommen.

Je grossartigere Züge der mittelalterliche serbische Staat annahm, desto verheerender musste die Niederlage gewesen sein, die zu seinem Ende geführt hatte. Im Mittelpunkt der Lieder und Legenden stand der Tod des türkischen Sultans durch die Hand eines serbischen Kriegers. Dessen ursprüngliche Anonymität fand ihr Ende, und mit Milos Kobilic (später zu Obilic geworden) schuf man den eigentlichen Helden der Schlacht, der auch als Gegenspieler des angeblichen Verräters Vuk Brankovic, des Schwiegersohnes von Lazar, dienen konnte. In dieser Kosovo-Tradition setzt sich auch die Bezeichnung des Tages der Schlacht als «Vidovdan», St.-Veits-Tag, durch, was erstaunt, da der sizilianische Märtyrer Vitus, dessen am 15. Juni gedacht wird, zwar in West- und Mitteleuropa (man denke nur an den Prager Veitsdom) lange Zeit grosse Verehrung genoss, nicht jedoch auf dem Balkan.

Element der nationalen Ideologie

Nach 1690 wanderten mehrere zehntausend Serben aus den südserbischen Gebieten in die von den Österreichern im Türkenkrieg von 1683-1699 eroberten Gebiete nördlich der Donau, die Vojvodina, aus. Zu ihnen gehörten auch die Mönche des Klosters Ravanica, die sich mit den Reliquien des Fürsten Lazar im Kloster Vrdnik, auch Neu-Ravanica genannt, in der Fruska Gora niederliessen. Erst hier erhielt der Kult gesamtserbische Bedeutung, gefördert auch durch zahlreiche Darstellungen des Fürsten in zeitgemässer barocker Manier. Lazar-Kult und Kosovo-Legende verschmolzen im 18. Jahrhundert miteinander und wirkten sich auch auf die Serben im Osmanischen Reich aus. Der fiktive Milos Obilic wurde nun sogar zum Gegenstand eines kirchlichen Kultes. Im 19. Jahrhundert diente der Mythos als Instrument zur Erringung der nationalen Einheit im Kampf um nationale Unabhängigkeit und Ausweitung der Grenzen des neuen serbischen Staates. In dem pathetischen Versepos des montenegrinischen Fürstbischofs Njegos «Der Bergkranz» (1847) wird nur Gott ebenso oft erwähnt wie Kosovo. Milos Obilic, der fiktive Held der Schlacht, erhält die letzte literarische Weihe als christlicher Heros und Symbol der (serbischen) Freiheit.

Im Jahre 1889 kulminierte die Kosovo-Begeisterung in den Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, die vom serbischen Staat minuziös geplant und durchgeführt wurden. In allen Teilen des Landes hielt man Gedenkfeiern ab. In Krusevac, Lazars Hauptstadt in Südserbien, legte man den Grundstein für das zukünftige Heldendenkmal zur Erinnerung an die Schlacht, und es wurde ein neuer, nach Lazar benannter Orden gestiftet, der nur an den serbischen König beziehungsweise dessen Erben verliehen werden darf. Auch in Österreich-Ungarn wurde das Kosovo-Jubiläum begangen, wenngleich von den dortigen Behörden erheblich behindert, aber unter grosser Anteilnahme nicht nur der Serben, sondern auch eines Teils der kroatischen Bevölkerung: Über die Serben hinaus war Kosovo zum Symbol des Jugoslawismus, ja der slawischen Solidarität geworden.

Im 20. Jahrhundert fiel der Vidovdan wegen des in der serbischen Kirche bis heute gebräuchlichen Julianischen Kalenders auf den 28. Juni; dieses Datum erhielt einen geradezu mystischen Charakter. Gavrilo Princip, der jugendliche Attentäter, der am Vidovdan des Jahres 1914 in Sarajewo den österreichisch-ungarischen Thronfolger erschoss, wurde von Njegos‘ Darstellung des Milos Obilic inspiriert und sah sich in dessen Tradition als Tyrannenmörder. Während des Ersten Weltkrieges schwappte die Kosovo-Begeisterung sogar in die Länder der Verbündeten Serbiens über: 1916 wurden in Grossbritannien, 1918 in den USA grosse Vidovdan-Feiern abgehalten. Am 28. Juni 1921 wurde die Verfassung des neugegründeten Jugoslawien verabschiedet. Als König Alexander 1934 in Marseille einem Attentat zum Opfer fiel, wurde er zu einem neuen Lazar stilisiert, der wie jener das himmlische dem irdischen Königreich vorgezogen habe. Erst im kommunistischen Jugoslawien musste der Kosovo- dem Partisanen-Mythos weichen. Jahrzehntelang war es allein die serbische Kirche, die das Gedenken an den Vidovdan am Leben erhielt, bevor 1989 die 600-Jahr-Feier der Schlacht zur offiziellen Wiedergeburt eines staatlich geförderten Kosovo-Kults führte.

Neue Zürcher Zeitung vom 24. April 1998

Serbiens nationaler Kosovo-Mythos
http://www.nzz.ch/dossiers/kosovo/kos980424ekr.html

Der Kosovo-Konflikt – Übersicht und Einführung
http://www.nzz.ch/dossiers/kosovo/index.html