Ein Falke auf dem Amselfeld: Die serbische Propaganda-Maschine läuft. Und wie so vieles in diesem Krieg, läuft sie nicht erst seit wenigen Wochen, sondern bereits jahrelang. Die „Schlacht auf dem Amselfeld“, untrennbar mit dem Aufstieg von Slobodan Milosevic verbunden, wird dem Serbischen Volk nun seit zehn Jahren in aller Breite und Ausführlichkeit geschildert.
Matija Beckovic, Mitglied der serbischen Akademie der Künste, erklärte „Kosovo“ zum „wertvollsten serbischen Wort“, in den Zeitungen der Bundesrepublik Jugoslawien erscheinen Grafiken, die die südlichste Provinz mit orthodoxen Kirchen und Klöstern überziehen. Der Kosovo, so will es die propagierte Geschichtsschreibung, gilt als „Wiege der serbischen Nation“.
Milosevic hat mit seinen Reden zur Amselfeldschlacht einen offenbar im eigenen Volk tief verwurzelten Glauben wiederbelebt. Den Glauben an eine Legende, die noch heute den Veitstag zum Nationalfeiertag der Serben macht.
Historisch ist die Lage klar: Am 28. Juni 1389 wurde das Ende eines Imperiums eingeleitet, das einst von der Donau bis zur Adria und bis zur Ägäis reichte. Serbien und das Osmanische Reich lagen im Krieg – und der forderte bei jeder Auseinandersetzung unzählige Tote auf beiden Seiten. Am Veitstag endete der Kampf mit dem Tod beider Anführer: Sultan Murat starb auf dem Schlachtfeld, der serbische Zar Lazar wurde gefangengenommen und geköpft. Doch bald war klar, daß die Osmanen als Sieger hervorgingen. Das zerfallene slawische Reich fiel unter türkische Oberherrschaft.
Die Legende spricht eine andere Sprache: Lazar, so der Mythos, hatte einer Erscheinung. Während der Schlacht kam ein Falke aus Jerusalem herbeigeflogen und sprach mit der Stimme des Propheten Elias zum Zaren: „Wählst du das irdische Reich, so kannst du die Türken schlagen“, ließ der schlaue Vogel den Heerführer wissen. „Wählst du aber das himmlische Reich, so werden die Türken dich auf dem Felde besiegen.“ Der Rest ist Geschichte – und die Serben seitdem ein „himmlisches Volk“ mit historischer Mission. Ein Bollwerk will man errichten gegen die Muslimen, die einen so gedemütigt haben in der Geschichte. Daß andere slawische Völker dabei zur Hilfe eilen, schien den Serben selbstverständlich. Und daß im Kosovo, wo alles begann, die Serben das Sagen hätten, ebenso.
Titos Herrschaft und die Folgen – „Nationen“ gegen „Völker“
Sprung in die jüngste Vergangenheit: Nach dem Tode Titos 1980 sind der Kosovo und die Vojvodina autonome Gebietskörperschaften der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Damit haben die ungarischen und albanischen Minderheiten im Vielvölkerstaat Jugoslawien nicht dieselben Rechte, die den anderen sechs Republiken schon in der Tito-Verfassung von 1974 zugebilligt werden. Daß sie damit den anderen Nationen gleichgestellt sein sollen, ist ebenfalls Legende. Denn ihnen wird auch im Tito-Regime der Status eines „Volkes“ abgesprochen, sie gelten nur als „Nationalitäten“. Damit besitzen sie eben kein Recht zur Selbstbestimmung. Ansonsten aber sind sie weitgehend autonom – und haben sogar das Recht zur eigenen Verfassung.
An dem feinen Unterschied aber zwischen den Rechten derjenigen, die nur Staatsbürger sind – und dem Recht der „Nationen“ innerhalb der Republik wird das alte Jugoslawien zerbrechen. Denn die „Nationen“, unter ihnen vor allem die Serben und die Kroaten, leben verstreut über alle Teilrepubliken. Haben sie nun auch in den „fremden Staaten“ ein Recht auf Selbstbestimmung – also auf die Unabhängigkeit?
Kroaten wie Serben legen das in den folgenden Jahren immer wieder für sich und gegen die anderen aus: Die Serben, die auf dem Staatsgebiet der Kroaten leben, machen ein Recht auf die Loslösung geltend, während sich die Kroaten ihrerseits auf ihr Staatsrecht berufen. Gleichzeitig wird den Albanern im Kosovo das Autonomierecht von den Serben verwehrt. In Bosnien schließlich machen Serben wie Kroaten ihr „Volksrecht“ gegen den bosnischen Staat geltend. Das „Pulverfaß Balkan“ ist entzündet.
Mitten drin stehen die Kosovo-Albaner. Sie, die einzige zugleich nichtslawische und vorwiegend nicht-christliche Minderheit, fordern schon 1981 den Republikstatus ein. Ein Aufstand im Frühjahr wird blutig niedergeschlagen. Milosevic, der aus dem Umfeld der serbischen Kommunisten aufsteigt, wird 1989 zum Präsidenten der Teilrepublik Serbien gewählt. Der Kosovo und die Vojvodina verlieren ihr ohnehin beschränkten Autonomierechte. Milosevics Parlament löst die 1990 Regierung des Kosovo auf – diese reagiert daraufhin mit der einseitigen Abspaltung. Serbien erklärt diesen Akt postwendend für nichtig.
Die Welt schaut in den folgenden Jahren auf andere Schauplätze: Im Balkan ist Krieg, Jugoslawien zerfällt. Im Juni 1991 erklären Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit, am 15. September folgt Makedonien dem Beispiel. Zwei Wochen darauf rufen die serbischen Albaner die „Republik Kosovo“ aus. Bosnien-Herzegowina folgt dem Unabhängigkeitsstreben im Oktober.
Unabhängigkeit – Schicksal in deutscher Hand?
Am 19. Dezember 1991 erkennt die Bundesrepublik Deutschland (und der Vatikan) Kroatien und Slowenien an. Vier Wochen später, am 12. Januar 1992, folgen die übrigen elf EU-Staaten. Die „Anerkennungspolitik“ des damaligen deutschen Außenministers H.-F. Genscher liefert mittlerweile Stoff für viele Diskussionen. Sie wirft einige Fragen auf: Was hat die Deutschen dazu gebracht, die Republiken im Alleingang als Staaten anzuerkennen? Hat diese Politik den Zerfall im Balkan beschleunigt? Sind strategische Fehler gemacht worden? Viele Details werden wohl erst mit Blick in die Akten des Auswärtigen Amtes geklärt werden können – eines aber ist sicher. Als Deutschland die Staaten anerkannte, war die EU-weite Anerkennung schon beschlossene Sache. Mehr noch: Die EU beschließt am 10. Dezember verschiedene Grundsätze für die Anerkennung neuer souveräner Staaten in der ehemaligen Sowjetunion und in Jugoslawien. Die Innenpolitik der Serben wird verurteilt, da sie dem Staatsziel der jugoslawischen Verfassung widerspreche. Die Stimmung bei den EU-Staaten, die noch im Sommer 1991 fast geschlossen für die Einheit des Balkanstaates eintreten, kippt. Man erkennt: Die Anerkennung ist auf Dauer nicht zu vermeiden. Das Fernsehen liefert in dieser Zeit täglich Kriegsbilder in die Wohnzimmer der Europäer.
Im April 1992 bestätigt die Europäische Gemeinschaft auch die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina. Die Serben besetzten Sarajevo. Der Krieg entbrennt. In seinem Schatten wählen die Kosovo-Albaner im Mai Ibrahim Rugova zu ihrem Präsidenten – die Wahl wird in Belgrad für illegal erklärt.
Der Krieg von Bosnien zieht sich, bis 1995 in Dayton Serben, Kroaten und Bosniaken den berühmten Friedensvertrag unterzeichnen. Fast 200.000 Serben wurden von Kroaten aus der Krajina vertrieben. Der serbische Präsident Milosevic unterzeichnet das Abkommen – die bosnischen Serben bekommen ihre eigene Gebietseinheit, die Republika Srpska. Milosevic hat jetzt offensichtlich den Kampf um die Krajina und um Ostslawonien aufgegeben. Noch wichtiger für den Präsidenten: Er entgeht einem internationalen Kriegsverbrechergericht. Darauf hat man trotz unzweideutiger Indizien verzichtet, um den Serbenführer für den Dayton-Frieden an den Verhandlungstisch zu laden.
Nach Jahren der Apartheid: Kriegsbeginn im Terror
In Kosovo haben die Serben derweil seit 1990 ein Regime errichtet, das zunehmend die Bevölkerungsmehrheit unterdrückt: Der albanischsprachige Unterricht wird untersagt, rund 150.000 Kosovo-Albaner werden aus dem öffentlichen Dienst und aus den staatlichen Unternehmen entlassen. Milosevic verhängt ein Kriegsrecht über die Provinz, alle Machtbefugnisse werden auf die Belgrader Regierung übertragen. Die serbische Polizei patrouilliert auf den Straßen, zunehmend gibt es auch gewalttätige Übergriffe. Doch die Republik läßt sich zunächst nicht vom gewaltsamen Aufstand an den anderen Rändern Jugoslawiens anstecken. Ibrahim Rugova und seine Parallelregierung leisten nur passiven Widerstand. Man arrangiert sich, lebt im Verborgenen und versucht dabei, die eigene Kultur zu erhalten. Bis 1995 bleibt das System der Apartheid stabil.
Mit dem Auftreten der radikalen Befreiungsarmee des Kosovo, der UÇK, eskaliert der Konflikt. Denn die UÇK-Kämpfer, die sich offen mit anderen Terrororganisationen vergleichen, beginnen einen Untergrundkampf gegen Serbien. Mit einem Bombenattentat gegen Radivoje Papovic, den extremen Nationalisten und Rektor der Universität Prishtina, das dieser schwer verletzt überlebt, trifft die UCK einen herausragenden Verfechter der serbischen Repressionspolitik. Im Kosovo bricht die öffentliche Ordnung zusammen. Serbien schickt zunehmend Militär und Polizei in die Region, 1997 herrschen hier bürgerkriegsähnliche Zustände. Artillerie und Panzerfahrzeuge, Hubschrauber und Maschinengewehre werden im Kosovo zusammengezogen. Die UCK organisiert sich stärker und beginnt mit der „Eroberung“ von Straßenzügen und Dörfern. Viele Kämpfe enden in Massakern. Alte, Frauen und Kinder sterben bei Großoffensiven der Serben und erbitterten „Befreiungsaktionen“ der UÇK.
Serbien: Nadelstiche auch in Bosnien
Auch der Friede in Bosnien steht auf tönernen Füßen. Der mühsam ausgehandelte Vertrag von Dayton scheint kaum zu halten. Allein die starke Präsenz internationaler Beobachtertruppen – Ende 1996 entsendet die NATO SFOR-Truppen – verhindert erneute Kampfhandlungen. Immer deutlicher wird: In Bosnien wird auf Jahre hin kein stabiles Zusammenleben möglich sein. Im Februar 1997 nimmt Milosevics Restjugoslawien „besondere Beziehungen“ zur bosnischen Teilrepublik Srpska auf. Einer von vielen Verstößen gegen die Dayton-Resolution, die dem jungen Staat Bosnien-Herzegowina volle Souveränität zusagt. Dem serbischen Machthaber fällt in der Folge nach etlichen Kampfhandlungen die bosnische Grenzstadt Brcko zu. Erneut hat ihm ein Vertragsbruch einen Vorteil verschafft. Doch die keinen Nadelstiche im Norden seiner Republik sind nichts gegen die Taktik, mit der Milosevic den Kosovo „gewinnen“ will. Anfang 1998 hat er offensichtlich seine militärischen Anstrengungen ganz auf die Südprovinz konzentriert.
Zwei Massaker – Kriegseintritt der NATO
Am 28. Februar zerstören serbische Militär- und Polizeitruppen nach Kämpfen mit der UCK zahlreiche Dörfer, 2000 Menschen bezahlen die Aktion mit dem Leben. Milosevic scheint seinem Ziel näher zu kommen: 250.000 Kosovo-Albaner fliehen aus ihrer Heimat. Die Entwicklung bis zum Kriegseintritt der NATO ist eine Geschichte von verschiedensten diplomatischen Versuchen um eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes, der sich spätestens seit Anfang 1998 zum Krieg ausgewachsen hat. Zunächst weigert sich Serbien, mit der einseitig wiedergewählten Kosovo-Regierung zu verhandeln, dann wieder weigert sich Ibrahim Rugova, mit der Belgrader Führung Gespräche zu führen. Mittendrin steht der amerikanische Vermittler Richard Holbrooke, der im Westen gern als „Held von Bosnien“ gefeiert wird. Er bringt auch die Gegner im Kosovo mehrfach an den Verhandlungstisch – allerdings ohne Erfolg. Unterstützt wird er in dieser Phase der „Shuttle-Diplomatie“ von seinem Vertrauten Christopher Hill. Der Krieg hat sich endgültig zum internationalen Problem ausgewachsen. Die USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich Italien und Deutschland bilden eine Kontaktgruppe. Besonders vertrackt ist die Lage im Sommer 1998 für Deutschland: Die alte Regierung wird die Bundestagswahl verlieren, das zeichnet sich ab. Klaus Kinkel gibt seinen Stuhl an Joschka Fischer ab, auf Volker Rühes Sessel wird Rudolf Scharping Platz nehmen. Doch die neue Regierung unterstützt den alten Kurs und stimmt einem Militäreinsatz auch ohne UN-Mandat zu. Die NATO droht jetzt offen mit Luftschlägen.
15. Januar 1999: In der Kosovo-Stadt Racak werden 45 albanische Zivilisten hingerichtet. Die Bilder gehen um die Welt. Die Entscheidung über Krieg oder Frieden steht kurz bevor: Die Kontaktgruppe zwingt Albaner und Serben in der Konferenz von Rambouillet an einen Tisch. Am 9. März unterzeichnet die UCK als Vertreterin der Albaner das vorgelegte Dokument. Die Serben lehnen ab.
Am 24. März beginnt die NATO mit der Bombardierung.
Autor: Olaf Wittrock
http://www.europa-digital.de/inside/team/owittrock.shtml
http://www.europa-digital.de/aktuell/dossier/kosovo/historie.shtml