An der Spitze der Nato-Truppen ist die britische 4th Armoured Brigade am Samstag mit ihren Panzern im weitgehend entvölkerten Kosovo eingezogen, unter dem Jubel der Albaner. Serbische Truppen stellten sich zum Abzug bereit. Pristina befand sich noch in ihrer Hand; es gab kaum Leute auf der Straße, die Atmosphäre war gespannt.
Am Samstag früh herrscht Ruhe im Lager der britischen 4th Armoured Brigade. Im Halbdunkel stehen dicht an dicht die monströsen Vehikel der mechanisierten Truppen, eine Ansammlung von Ungetümen aus Eisen und Stahl. Auf einem Panzer steht ein Soldat und putzt die Zähne. Weitere Soldaten liegen in ihren Schlafsäcken zwischen den Raupen auf dem Boden.
Nato Truppen ziehen in das Kosovo ein
Da und dort kriechen aus Schützenpanzern und Baggerkabinen verschlafene Männer hervor. Um fünf Minuten nach fünf geht es los. Fünf Transporthelikopter brausen über das Lager hinweg, dann vier Kampfhelikopter als Begleitschutz. Weitere Helikopter folgen in kurzem Abstand. Den ganzen Tag wird die Luft von ihrem Lärm erfüllt sein. Manche tragen Geländewagen und Anhänger durch die Luft, später folgen einige mit Baggern an der Tragkette. Die andern transportieren Vorauskommandos von Fallschirmjägern; ihr Ziel ist dem Vernehmen nach der Flugplatz von Pristina. Aus den Luken ragen die Läufe von Maschinengewehren. Acht Helikopter formieren sich zu einem Kreis und drehen einige Minuten lang Warteschlaufen, dann fliegen auch sie davon in Richtung Kosovo. Die jugoslawische Grenze liegt wenige Kilometer entfernt.
Nato Truppen ziehen in das Kosovo ein
Ein Heerlager setzt sich in Bewegung
Die britischen Soldaten im Lager stehen auf ihren Fahrzeugen, trinken Tee und schauen dem Treiben in der Luft zu. Sie sind noch nicht an der Reihe. «Irgendwann im Laufe des Vormittags fahren wir ab», sagen sie. Genaueres wissen sie nicht. Bis es soweit ist, überprüfen sie nochmals ihre Ausrüstung. Büchsen mit Handgranaten werden aus- und wieder eingepackt, Radnaben geschmiert, Schlafsäcke zusammengerollt und verstaut. Bei einem Landrover liegt eine gestochen scharfe Luftaufnahme von Urosevac ausgebreitet. Das Gelände von Kosovo ist mit Flugzeugen und Drohnen in den letzten Monaten systematisch erkundet worden – man weiss, wo man hinfährt.
Die Voraustrupps sind schon um 5 Uhr 25 über die Grenze vorgestossen, zur Sicherung der Strasse. Der nächste Trupp fährt gegen acht Uhr los. Er besteht vorwiegend aus leichten Panzern, dazu kommen Landrovers und drei Räumungspanzer; sie haben gewaltige Schaufeln, um den Weg freizumachen, wo es nötig ist. Die Gefährte haben Namen wie «Decisive» und «Death Star», oder dann «Grolsch» und «Dingel Dirt Box»; ein Gefährt heisst «Democratic». Beim Lager Stenkovec II warten die albanischen Flüchtlinge auf die Panzer der Nato und jubeln ihnen begeistert zu. Schon in der Nacht hatte das Vorrücken von einigen Panzern in Richtung Grenze zu einem mehrstündigen Volksfest auf der Strasse geführt. Der Lagerzaun wurde niedergetrampelt; die Menge rief begeistert «Nato, UCK, Nato, UCK».
Verschwundene Grenze
Ein mazedonischer Zöllner lässt die Journalisten mit Presseausweis im Schnellverfahren passieren, ohne die üblichen Formalitäten. Der jugoslawische Grenzposten liegt verlassen da, die Ausweiskontrolle entfällt – eine Genugtuung für alle Journalisten, die von den Belgrader Behörden kein Visum erhalten haben. Auch die übliche Desinfektion der Wagenräder entfällt. So schnell hat man diese Grenze noch nie passiert, sie ist praktisch verschwunden. In einer Tür zeigen sich kurz braune Uniformen, wie sie die jugoslawische Zollverwaltung hat; möglicherweise hat Belgrad noch einige Beobachter hier. Ein Stück weiter stehen vier Polizisten der Befreiungsarmee Kosovo.
Gleichzeitig ziehen die Serbische Truppen aus dem Kosovo ab.
Fast unversehens ist man gegen acht Uhr in Kosovo angelangt. Auf den ersten Blick hat sich wenig verändert in den letzten drei Monaten. Die Zementfabrik sieht gleich hässlich aus wie immer; allerdings stößt sie keine Staubwolken mehr aus. Kaputte Autos mit zerbeultem Blech und zertrümmerten Scheiben stehen am Straßenrand. Viele Leute haben hier nie gewohnt; die Abwesenheit von Bevölkerung fällt deshalb nicht besonders auf. Aber dann erblickt man Häuser ohne Einwohner. Sie sind geplündert, und die Fensterscheiben sind eingeschlagen. An einer Wand prangt die Spray-Inschrift «Srbija» (Serbien). Am Straßenrand frisst ein streunender Hund am Kadaver eines andern Hundes.
Langes Warten in der Hitze
Dann gerät der Vormarsch der Nato ins Stocken. Die Brücke über den Fluss Lepenac steht noch, sie wurde nicht gesprengt. Aber im anschließenden Tunnel haben die Voraustrupps der Briten dem Vernehmen nach eine Kiste gefunden, die nicht dort sein sollte. Sie muss zuerst untersucht und entfernt werden. Minenräumpanzer fahren vor, und mehrere Helikopter setzen Frachten auf der Brücke ab – wahrscheinlich Spezialgeräte für die Deaktivierung von Sprengsätzen -, während ein Kampfhelikopter zur Sicherung über einem nahen Berg hängt. Es ist Mittag, und über dem Tal lastet eine Bruthitze. Das Radio meldet, dass die russischen Truppen im Triumph in Pristina eingerückt seien, freudig begrüßt von den serbischen Bewohnern der Hauptstadt Kosovas.
Erst nach Mittag setzt sich das Gros der 4th Armoured Brigade in Bewegung. In ununterbrochener Kolonne schieben sich Panzer und Lastwagen und Spezialfahrzeuge aller Sorten an der Kolonne der Journalisten vorbei, mindestens 300 schwere Gefährte und eine Menge leichter. Entlang der Strasse stehen in Abständen von dreissig Metern Gurkha-Soldaten aus Nepal, die bei den britischen Truppen als Verstärkung der Infanterie eine lange Tradition haben. Ihre Aufgabe ist es, den Konvoi abzusichern und den Fahrern die Richtung zu weisen, nötigenfalls auch die Journalisten im Zaun zu halten. Bei Kacanik erreicht der Zug auf der Umfahrungsstrasse erstmals eine grössere Siedlung; das Städtchen liegt wie verlassen da, nur kurz erblickt man zwei-, dreimal Bewohner auf den Strassen. Der Markt ist niedergebrannt, auch einige Häuser, ansonsten sind von weitem wenig Zerstörungen sichtbar. Auf einem Fußballfeld und bei einer Baustelle haben die Soldaten Lager bezogen; sie sind von der Hitze und der langen Reise erschöpft.
Jubel der Albaner – Angst der Serben
Bei der Weiterfahrt durch die Ebene in Richtung Pristina stehen an manchen Orten grössere oder kleinere Gruppen von Leuten, die aus den etwas abseits liegenden Dörfern an die Hauptstrasse gekommen sind, um die Befreier zu begrüssen. Männer, Frauen und Kinder klatschen und winken und rufen begeistert «Nato, Nato». Ein junger Mann strampelt aus Leibeskräften, um mit seinem Velo einem Panzer für ein paar hundert Meter das Ehrengeleit zu geben. Einen Tag zuvor haben die meisten Kosovo-Albaner nicht daran geglaubt, dass der Abzug der serbischen Truppen und der Einzug der Nato wirklich bevorsteht. Um so grösser ist jetzt die Begeisterung.
An Kreuzungen und bei Tankstellen hat die Nato Panzer aufgestellt, um die Strasse für später nachrückende Truppen abzusichern. In der Nähe von Lipljan führt eine Brücke über die Hauptstrasse, und darüber fahren zwei Panzer mit wehenden jugoslawischen Fahnen. In der Nähe stehen jugoslawische Soldaten. Auf einer Nebenstrasse macht sich ein Konvoi der serbischen Truppen zum Abmarsch in Richtung Norden bereit. Ein Stück weiter fährt ein Traktor mit Anhänger, mit Hausrat beladen; zuoberst ist ein Kinderfahrrad festgezurrt. Eine neue Bevölkerungsverschiebung ist im Gang: Die serbischen Einwohner Kosovas fliehen vor der Rache der zurückkehrenden Albaner. Der Besitzer einer Tankstelle kurz vor Pristina offeriert Rakija. Vor wenigen Minuten haben Nato-Panzer auf seinem Gelände Stellung bezogen. Unvermittelt ist ihm klargeworden, dass die Herrschaftsverhältnisse in Kosovo umgekrempelt sind. Jetzt ist er nachdenklich und schweigsam. Zwar sagt er tapfer-optimistisch: «Hier geht es gut.» Aber wahrscheinlich hat er Angst vor dem, was die Zukunft bringen mag.
Polizisten und Journalisten
Pristina, die Hauptstadt Kosovas, befindet sich noch ganz in der Hand der serbischen Truppen. Auf der Strasse sieht man nur wenige Leute, vorwiegend Polizisten und Journalisten. Diese haben sich vor dem sogenannten «Grand-Hotel» versammelt und festgestellt, dass es ausgebucht ist. Es fehlen die Privatquartiere, die früher zur Verfügung standen, denn die meisten Zimmervermieter sind geflohen. Das Stadtzentrum ist nicht stark zerstört, die Wohnblocks und Hochhäuser sehen unversehrt aus. Allerdings sind alle albanischen Läden geplündert. Die Polizeihauptwache und der Sitz der Provinzverwaltung sind verwüstet.
Die Umgebung Pristinas macht bei einsetzender Dunkelheit, Regen und Hagelschlag einen gespenstischen Eindruck. Nahe dem Denkmal von Obilic, wo 1389 die Serben auf dem Amselfeld ihre historische Niederlage gegen die Türken erlitten, brennen zwei Häuser; beissende Rauchschwaden ziehen über das Feld. Die Zerstörung der albanischen Siedlungen geht weiter. Bei Kosovo Polje steht ein betrunkener Bewaffneter auf der Strasse. Gewehrsalven knattern. Das Klima von Krieg und Unsicherheit ist noch nicht überwunden.
Erster Uno-Hilfskonvoi in Kosovo
Blace, 13. Juni. (Reuters) Bereits einen Tag nach dem Einrücken von Nato-Verbänden sind am Sonntag auch die ersten internationalen Hilfskonvois in Kosovo eingetroffen. Etwa 50 Fahrzeuge des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten überquerten von Mazedonien aus die Grenze und machten sich auf die Fahrt nach dem 70 Kilometer entfernten Pristina. In den kommenden Tagen sollten weitere Konvois folgen. Eine der ersten Aufgaben des Uno-Hilfswerks wird es sein, die Lage der Menschen in der Provinz einzuschätzen. Hilfsorganisationen vermuten, dass in dem unübersichtlichen Gebiet bis zu 500 000 Vertriebene von der Hand in den Mund leben.